
«Unsere Bewohnenden sollen so autonom wie möglich bleiben.»
Die hochwertige Betreuung und Pflege von älteren Menschen ist der Kernauftrag von Viva Luzern. Aber was heisst das genau? Und wie lassen sich die hochgesteckten Ziele im bisweilen hektischen Alltag erreichen? Verwaltungsrätin Marlies Petrig verrät im Interview, wo unser Unternehmen die Schwerpunkte setzt.
Marlies Petrig, was verstehen Sie persönlich unter guter Betreuung und Pflege im Alter?
Für mich gibt es zwei Schlüsselbegriffe: Fachwissen und Aufmerksamkeit. Nur wenn unsere Mitarbeitenden über das nötige Fachwissen verfügen, können sie Tag für Tag den hohen Anforderungen gerecht werden. Der zweite Punkt betrifft die Aufmerksamkeit, die wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern schenken. Auch sie ist entscheidend für deren Wohlbefinden.
Können Sie das etwas konkreter ausführen?
Egal ob Pflegefachfrau, Physiotherapeut oder Mitarbeiterin der Wohnbereichsgastronomie: Unsere Mitarbeitenden sind stets gefordert, im Umgang mit den Bewohnenden so präsent wie möglich zu sein. Nur so können wir wirklich wahrnehmen, welche Bedürfnisse diese haben. Und glauben Sie mir: Die Bewohnerinnen und Bewohner merken sofort, ob ihr Gegenüber wirklich präsent ist oder nicht.
Wie gelingt dies im hektischen Alltag?
Wir müssen den Menschen zuhören, sie beobachten, uns jeden Tag aufs Neue auf sie einlassen. Aus dem Demenzbereich gibt es einen Leitsatz, der die Sache auf den Punkt bringt. Er lautet: See me, not my dementia. Nimm mich als Mensch wahr, nicht nur als demenzkranke Person.
Welches sind denn die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner von Viva Luzern?
Natürlich haben wir eine Vorstellung davon, was unsere Bewohnerinnen und Bewohner brauchen. Noch wichtiger ist aber, dass es uns gelingt, diese Bedürfnisse direkt abzuholen. Es geht in der Pflege somit nicht darum, einfach ein Programm abzuspielen, sondern möglichst individuell auf die Situation der Bewohnenden einzugehen.
Wie ist das konkret zu verstehen?
Wir sind überzeugt, dass der Alltag auch mit gesundheitlichen Einschränkungen und Unterstützung gelingen und bis zum Tod erhalten werden kann. Es geht somit nicht «nur» um die pflegerischen Leistungen sowie die Unterstützung bei der Körperpflege: Echte Betreuung und Pflege geht noch viel weiter. In diesem Zusammenhang gibt es einige Begriffe, die sich aufdrängen.
Wie zum Beispiel?
«Unterstützung» ist einer davon. Betreuung und Pflege heisst, dass wir unsere Bewohnenden und ihre Angehörigen beim Übergang in ein Betagtenzentrum unterstützen. Dass wir sie bei diesem grossen Schritt begleiten und ihnen die Möglichkeit bieten, die neue Situation anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Auch die Möglichkeit zur Teilhabe ist ein wichtiges Thema.
Was ist damit gemeint?
Auch Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen haben ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und soziale Kontakte. Unsere Aufgabe ist es, ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten möglichst viel Raum und Entwicklung zu bieten. Ob singen, malen, Zeitung lesen oder spazieren: Die Bewohnenden sollen möglichst selbst bestimmen können, wie ihr Alltag aussieht.
Wie geht man vor, wenn die Bewohnenden nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu formulieren?
Dieser Prozess hat viel mit Fachwissen zu tun. Dazu gehört beispielsweise, dass unsere Mitarbeitenden in der Lage sind, über eine klar definierte Schmerzeinschätzung die Schmerzqualität und -intensität bei den Bewohnenden einzuschätzen. Zudem spielt auch die Teamarbeit eine grosse Rolle. Bei Viva Luzern stehen viele verschiedene Menschen und Berufsgruppen mit den Bewohnenden in Kontakt. Umso wichtiger ist, dass der Austausch innerhalb der und zwischen den Teams funktioniert. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir regelmässig Fallbesprechungen und Reflexionen durchführen.

Die Kommunikation scheint in verschiedener Hinsicht ein Schlüsselaspekt zu sein.
Absolut. Ob innerhalb der Pflege- und Betreuungsteams, im Kontakt mit den Bewohnenden oder im Gespräch mit den Angehörigen: Diese Beziehungsarbeit ist essenziell. Zu diesem Thema gehört auch, dass sich das Informationsbedürfnis des Umfelds stark verändert hat. Viele Angehörige möchten heute regelmässig und detailliert über den Zustand ihrer Verwandten informiert werden.
Beziehungsarbeit braucht viel Zeit, gleichzeitig nimmt der Druck im Pflegebereich zu. Beisst sich das nicht?
Es ist in der Tat eine grosse Herausforderung. Erschwerend kommt hinzu, dass der Betreuungs- und Pflegebereich nie wirklich abgeschlossen ist. Man könnte immer noch etwas mehr tun, nochmals fünf Minuten länger mit einem Angehörigen sprechen, noch ein weiteres Mal nach dem Befinden einer Bewohnerin fragen. Hier die richtige Balance zu finden, gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Geht man heute stärker auf die Bedürfnisse der Bewohnenden ein als noch vor zehn oder zwanzig Jahren?
Diese Bemühungen sind nicht neu. Aber durch die Entwicklung der Gesellschaft und die zunehmende Individualisierung hat sich unser Leistungsauftrag sicherlich verändert. Das liegt auch daran, dass wir es mit ganz unterschiedlichen Bewohnerinnen und Bewohnern zu tun haben: Manche kommen nur vorübergehend zu uns, andere bleiben dauerhaft, sind aber körperlich und geistig noch sehr fit – und wieder andere stehen kurz vor dem Lebensende. Heute ist die Anzahl an Ein- und Austritten viel höher als vor einer Dekade.
Bleibt die Individualität bei so vielen verschiedenen «Zielgruppen» nicht zwangsläufig auf der Strecke?
Ja und nein. Natürlich ist das Zusammenleben innerhalb einer Institution immer an Rahmenbedingungen geknüpft. Unsere Aufgabe ist es, die vorhandenen Spielräume möglichst kreativ zu nutzen.
«Selbstbestimmung» ist ein Stichwort, das im Bereich mit Pflege- und Betagtenzentren immer wieder fällt. Was ist darunter genau zu verstehen?
Es ist uns ein grosses Anliegen, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner so autonom wie möglich bleiben können. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Eintritt in eine Institution für die meisten nicht einfach ist. Viele haben diesen Schritt nicht in ihrer Lebensplanung vorgesehen. Umso wichtiger ist es, die Leute abzuholen und Sie dabei zu unterstützen, ihren Alltag möglichst selbstständig gestalten zu können.
Der Fachkräftemangel ist in der Pflegebranche allgegenwärtig. Wie begegnet Viva Luzern dieser Herausforderung?
Der Kampf gegen den Fachkräftemangel beginnt in jedem einzelnen Standort. Es gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben, junge Berufsleute aus- und weiterzubilden. Zudem sollten wir stets unser Bestes geben, um unsere guten Anstellungsbedingungen zu erhalten und weiter zu verbessern. Letztlich geht es schlicht und einfach darum, eine attraktive Arbeitgeberin zu sein – mit allen Facetten, die dazugehören.
Können Sie eine Massnahme nennen, die Viva Luzern zu einer attraktiven Arbeitgeberin macht?
Ein tolles Beispiel ist die Schaffung der Position der geriatrischen Pflegeexpertinnen und -experten. Diese Kolleginnen und Kollegen stehen unseren Pflegeteams in besonders komplexen Situationen zur Seite und übernehmen eine Drehscheibenfunktion zwischen den Wohngruppen, den Ärztinnen und Ärzten und der Pflegeleitung. Die Schaffung dieser Position steigert nicht nur die Pflegequalität, sie stärkt auch unsere Attraktivität als Arbeitgeberin. Der Fachkräftemangel ist jedoch nicht unsere einzige Herausforderung.
Was meinen Sie damit?
In der Schweiz herrscht Vollbeschäftigung. Es gibt somit mehr offene Stellen als Arbeitslose. Dies führt dazu, dass zum andauernden Fachkräftemangel auch ein «Nichtfachkräftemangel» dazukommt. Gerade im Pflegebereich müssen wir es schaffen, unsere Berufsmöglichkeiten noch besser und attraktiver zu gestalten.
Wie kann das gelingen?
Zum Beispiel, indem wir potenziellen Mitarbeitenden die spannenden Entwicklungsmöglichkeiten in unserem Unternehmen aufzeigen. Ich hoffe, dass wir bei Viva Luzern einen Beitrag dazu leisten können, um die Faszination der Berufe im Betreuungs- und Pflegebereich noch bekannter zu machen. Hierbei übernehmen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wichtige Aufgabe. Sie sind unsere wichtigsten Botschafter.
Abschliessend ein Blick in die Zukunft: Wie werden sich die Herausforderungen im Bereich der Betreuung und Pflege entwickeln?
Ich glaube, dass das Betagtenzentrum auch in Zukunft eine Daseinsberechtigung haben wird, die aktuellen Entwicklungen werden sich aber noch weiter verstärken. Das Thema «Wohnen mit Dienstleistungen» wird sicher weiter an Aktualität gewinnen. Die Ansprüche der Kundinnen und Kunden werden eher zunehmen als abnehmen.
Wie bereitet sich Viva Luzern auf diese Entwicklungen vor?
Wir beschäftigen uns intensiv mit den Herausforderungen der Zukunft. Dazu gehört unter anderem, dass wir über die nötige Infrastruktur verfügen. Wir sollten uns aber nicht nur über Bauprojekte unterhalten, sondern auch über unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich bin überzeugt: Das Personal ist der Schlüssel zum Erfolg. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Genau deshalb sollten wir so viel wie möglich in diesen Bereich investieren.
Über Marlies Petrig.
Marlies Petrig wurde im Juni 2021 in den Verwaltungsrat von Viva Luzern gewählt. Sie verfügt über Erfahrung in unterschiedlichen Führungspositionen im Pflegebereich, aktuell als Mitglied der Geschäftsleitung und Leiterin Health Care Services im Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit (KZU) im Kanton Zürich.
Ihre Verantwortungsbereiche umfassen dabei den Pflegedienst, die Therapien, den ärztlichen Dienst, das Qualitätsmanagement sowie das Care und Case Management. Seit 2018 ist Marlies Petrig als Vorsitzende der Pflegedienstkommission des Kantons Zürich beratend für die Gesundheitsdirektion und seit 2019 als Vizepräsidentin im Vorstand Langzeit Schweiz tätig. Marlies Petrig ist 56 Jahre alt und wohnt in Gutenswil im Kanton Zürich.